Religiöser Backlash
Der Glaube ist zurück. Unter staatlich garantierter Freiheiten sogar vielfältiger denn je. Ob als weltoffener Kirchentag, biedere Esoterikmesse oder im Grinsekult um den Dalai Lama – für jeden ist etwas dabei, und das Interesse wächst. Dabei geht es nicht nur um gemeinsame Freizeitgestaltung. Die spirituellen Zusammenrottungen bieten Halt und Wärme in einer unberechenbaren und feindlichen Welt. Und damit falsche, reaktionäre Antworten auf die systemischen Zwänge des Kapitalismus. Die empfundene Entfremdung ist real. Doch gegen ihre gesellschaftlichen Ursachen hilft keine Offenbarung, sondern nur der sinnliche und praktische Kampf um Emanzipation im Diesseits.
Zwei religiös begründete Ereignisse besonderer Art gibt’s demnächst in Berlin zu erleben. Anhänger der Islamischen Republik Iran fühlen sich am 4. September verpflichtet, einem Aufruf des Klerikers Ayatollah Chomeini aus dem Jahr 1979 zu folgen. Am so genannten „Al-Quds-Tag“ sollen alle Muslime für die „Befreiung Jerusalems“ von den „Zionisten“ demonstrieren, also für die Zerschlagung Israels. In der antisemitischen Propaganda Teherans erscheint der jüdische Staat als endzeitlicher „Satan“, von dessen Vernichtung die Erlösung der Welt abhängt. Zwei Wochen darauf, am 18. September, drückt ein christliches Bündnis seine tiefe Betroffenheit aus, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht genug kriminalisiert seien. Es werden weiße Kreuze herumgetragen und Gebete gesprochen.
Beide Ereignisse sind grundverschieden. Ihre Teilnehmer halten sich nicht nur an unterschiedliche Erlöser und klerikale Hampelmänner. Sie verfolgen auch keine gleichen Ziele und handeln aus anderen gesellschaftlichen Positionen heraus.
Komisch, dass sich ihr jeweiliger Gott ausgerechnet um nationale Souveränität oder den rechtlichen Rahmen eines medizinischen Eingriffs kümmert. Ganz offensichtlich dient die Heiligkeit einem aggressiven irdischen Sendungsbewusstsein. Die neuen Religiösen geben sich als Rebellen in einer oberflächlichen, materialistischen Welt. Jeder konkrete Streit wird zum exemplarischen Konflikt von Gut gegen Böse. Doch das Glaubensbekenntnis ist kein Trick. In den gläubigen Köpfen gibt es keinen Unterschied zwischen politischer und der religiöser Einstellung.
Genau aus dieser Verknüpfung gewinnen die Religionen ihre aktuelle Stärke. Politik verlangt bedingungslosen Opportunismus. Sie reduziert sich zusehends auf das Verwalten gegebener Sachzwänge einer von Konkurrenz und Ohnmacht durchdrungenen Welt. Anders scheint es beim Glauben. Diesem wird ein Geschick für alles Zwischenmenschliche zugetraut. Er stiftet Zuversicht, weil er die Menschen mit ewig verbürgten Wertmaßstäben ausstattet.
Die Meisten begnügen sich mit dem Glauben, der Glaube sei wichtig fürs Miteinander. Spirituelle Befriedigung stellt sich schon dann ein, wenn Heiligabend der Großvater im Altenheim besucht wurde. Andere verspüren eine Mission, wie die Vernichtung Israels oder das Retten bewusstseinsloser Zellmasse. Was Huhn und was Ei – politischer Fanatismus oder kindische Gottesfurcht – lässt sich kaum noch sagen. Am Ende siegt immer das Irrationale.
Realpolitik mit dem Herrn
Bei der seit 2002 veranstalteten Berliner Version des Al-Quds-Tages spielt die Religion nur eine untergeordnete Rolle. Teheran ist weit weg, der Islam hierzulande eine Minderheitenreligion, und seine iranisch-staatstragende Auslegung eine Randnotiz. Die Al-Quds-Märsche dienen vor allem als Treffpunkt für Antizionisten aller Couleur. Fürs iranische Regime ist die ritualisierte „Solidarität mit dem palästinensischen Volk“ aber von zentraler Bedeutung. Sie stabilisiert die theokratische Staatsideologie, in deren Namen regelmäßig Homosexuelle gehenkt und Ehebrecherinnen gesteinigt werden.
Christlichen Lebensrechtlern geht es ebenfalls um Politik. Gegen den Verlust konservativer Werte fordern sie ein gottgegebenes Recht. Beim „Marsch für das Leben“ am 18. September machen sie sich für ein europaweites Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen stark. Zuweilen wird ganz sachlich mit dem Geburtenrückgang argumentiert, was auch jedem Staatsbürger einleuchten soll. Doch anders als in der Familienpolitik geht es den Lebensrechtlern nicht bloß ums Rentensystem und die Produktion frischer Arbeitskräfte für die Nationalökonomie. Der demographische Wandel ist ihnen nur eine schlimme Folge von Gleichberechtigung und Liberalismus, dem eigentlichen Problem. Der Mensch sei schließlich ein Werkzeug Gottes, sein eigener Körper gehöre ihm nicht.
Extremismus der Mitte
Widerstand gegen Antisemiten und „Lebensschützer“ ist notwendig, um ihren politischen Spielraum zu beschneiden. Doch die bizarren Fundamentalisten sind wesentlich Symptom einer bizarren Normalität. Zu kritisieren und zu bekämpfen sind Verhältnisse, welche die Sehnsucht nach einer überirdisch verbürgten Ordnung hervorbringen. Einst versprach die Aufklärung jedem, seines Glückes eigener Schmied zu werden. Das Versprechen entpuppte sich als blanke Ideologie. Wer in dieser Gesellschaft nicht untergehen will, muss zuschlagen können wie ein Schmied und einstecken wie ein Amboss, aber mit Glück hat das wenig zu tun. „Aufgeklärt sein“ heißt heute nur noch, die nackten Zwänge kapitalistischer Verwertung und staatlicher Zurichtung illusionslos anzuerkennen. Also genau das, vor dem die Gläubigen Schutz suchen.
Ein Humanismus, der nicht nur abstrakt „das Gute“ will, muss erklären können, warum sich das Glück unter den aktuellen Bedingungen von Freiheit und Gleichheit nicht so recht einstellt. Die endlosen Konflikte des irdischen Jammertals müssen als Ausdruck von Widersprüchen kenntlich gemacht werden, die in der Struktur des globalisierten Kapitalismus angelegt sind. Genau in dem Punkt ist sich die bürgerliche Gesellschaft selbst ein mythisches Rätsel. Ihr gelten Markt und Staat als höhere Mächte.
Wer von beiden gerade den Hut auf hat oder haben sollte, hängt von der konkreten Glaubensrichtung und auch immer von der aktuellen Konjunktur ab. Galt jahrelang jeder staatliche Eingriff in die Wirtschaft als Gefahr für Wachstum und Wohlstand, hat nun das Staatsvertrauen Konjunktur. Doch immer wird die Existenz von Markt und Staat – und damit von Konkurrenz, Ausschluss und dumpfem Kollektivismus – als unabänderlich betrachtet. Jeder Hinweis, dass die von Menschen gemachten Herrschaftsverhältnisse auch von den Menschen überwunden werden können, wird wie Blasphemie denunziert, als „Extremismus“ von Heilsverächtern.
Deshalb müssen Al-Quds-Tag und „Marsch der 1000 Kreuze“ in Berlin als Resultate einer Gesellschaft begriffen werden, deren Unberechenbarkeit den Individuen immer wieder ideologisches Denken nahe legt. Zu kritisieren ist die ideologische Form und ihr gesellschaftlicher Grund, nicht nur der gott- oder staatsgläubige Inhalt. Maßstab dieser Kritik ist das Menschenmögliche. Wir nennen es Kommunismus.
Gegen Islamismus und Antisemitismus! [1]
4. September 2010, 12 Uhr, Nollendorfplatz
1000 Kreuze in die Spree! [2]
18. September 2010, 12 Uhr, Alexanderplatz (Liebknecht- Ecke Spandauer Straße)